Der Geschichte auf der Spur
100 JAHRE STANDORT MÜNCHENSTEIN
Warum Ernst Müller nach Münchenstein kam
Dass Münchenstein als Industriestandort für Firmen Ende 19. und Anfang 20. Jahrhundert interessant wurde, hat nicht nur mit der Nähe zu Basel und ihrer aufkommenden Chemie zu tun, sondern auch mit dem klugen Ausbau des öffentlichen Verkehrs im Birstal.
Münchenstein auf einer Postkarte, Aufnahme um 1916 (Bild: Bürgergemeinde Münchenstein).
Nach dem Ende des Sonderbunds wird eine Revision des Bundesvertrags von 1815 in Angriff genommen. Daraus entsteht die Bundesverfassung von 1848. 1874 erhalten die Bürger mit der Totalrevision der Bundesverfassung mehr staatsbürgerliche Rechte (Handels- und Gewerbefreiheit, Glaubensfreiheit, Niederlassungsfreiheit, Referendumsrecht).
Viele Quellen zeichnen die Zeitspanne rund um den Jahrhundertwechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert als Periode, in der die moderne Schweiz geprägt wird. Es ist die Zeit der grossen Industriepioniere und der grossen Pioniertaten, wie der Auf- und Ausbau des Eisenbahn- und Strassennetzes, die Gründung der technischen Hochschulen und der Ausbau und die Förderung der allgemeinen Bildung. Neue Industrien entstehen. In Basel werden die ersten chemischen Fabriken in Betrieb genommen. Maschinen und Uhren werden begehrte Exportartikel.
Münchenstein sichert sich Bahnlinienführung auf ihrer Seite der Birs
Und dieser Export wird 1870 durch einen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich torpediert, der Wasserweg über den Rhein gesperrt. Nach dem knapp einjährigen Krieg wird das Elsass dem Deutschen Kaiserreich zugeordnet. Für die Schweizer ist dies problematisch, da die direkten Ausfuhrwege nach Frankreich und damit die Anbindungen an das französische Eisenbahnnetz nun unterbrochen sind. Ein neuer, direkter Weg nach Frankreich wird entlang der Birs über Porrentruy gefunden.
Bei der politischen Auslegeordnung, wo genau denn die Linienführung der Eisenbahn gelegt werden soll, engagiert sich Münchenstein energisch in der Debatte. Die einfachere Streckenlinie hätte ihren Weg ab Basel entlang der Birs über Reinach und Aesch nach Angenstein genommen. Im Verbund mit Arlesheim, wo bereits Industrie angesiedelt ist, können die Münchensteiner bewirken, dass die Eisenbahnlinie auf «ihrer Seite» der Birs realisiert wird.
Nach diesem Entscheid beginnt Münchenstein kräftig zu wachsen, was sich unter anderem durch Zuwanderung von Arbeitern und Angestellten und dem nahen badischen und elsässischen Umland bemerkbar macht. Neben der Nähe zu Basel mit ihren prosperierenden Chemieunternehmen ist also der Ausbau des öffentlichen Verkehrs mit einer Bahnstrecke, der Juralinie der Jura-Simplon-Bahn, Basis dieses Wachstums. Durch diese verkehrstechnische Anbindung wird die Achse Basel-Münchenstein-Arlesheim-Dornach für Industrien und Geschäfte äusserst interessant. 1870 kommt die Portlandcementfabrik Brentano und Co. nach Münchenstein.
Für die geplante Bahnstrecke Basel-Delsberg muss in Münchenstein die Birs überquert werden. Das Projekt sieht eine eingleisige Eisenbahnbrücke vor. 1874 hat die Jura-Simplon-Bahn den Auftrag zum Brückenbau an das Unternehmen von Gustave Eiffel vergeben. Eiffel hatte damals bereits vier grössere Eisenbahnviadukte in Frankreich geplant und gebaut.
Mit der Eröffnung der Bahnstrecke Basel-Delsberg 1875 siedeln sich im Umkreis der Bahnstation Münchenstein zahlreiche Fabriken an.
- 1894 Fabrik R. Alioth & Cie. (die 1911 mit der BBC fusioniert)
- 1897 Elektra Birseck, die den Strom zuerst von Alioth bezieht
- 1899 Gebrüder van Baerle mit Seifen und chemisch-technischen Produkten
Die Birseckbahn bringt Entlastung für den Nahverkehr
Um die Jahrhundertwende genügt den Gemeinden Münchenstein, Arlesheim und Dornach das Angebot der Jurabahn von täglich acht bis neun Zügen nicht mehr. Auch ist für die Arlesheimer der Weg zum nächsten Bahnhof zu lang. So entschliesst sich die in Münchenstein ansässige Elektrizitätsgesellschaft R. Alioth & Cie., ein Konzessionsgesuch für den Bau und Betrieb einer Trambahn einzureichen.
1902 wird die Strassenbahn Basel-Arlesheim (Birseckbahn) durch das neue Industriequartier gebaut. Entlang der Birseckbahn dehnt sich Münchenstein weiter in Richtung Basel aus. Schon bald nach Betriebseröffnung muss die Streckenkapazität durch Ausbau auf Doppelspur erhöht werden, der Abschnitt Birsbrücke-Münchenstein macht 1903 den Anfang.
Die Birseckbahn BEB mit offenem Sommeranhänger bei der Haltestelle Münchenstein Dorf, mit dem Restaurant Tramstation und rechts davon mit dem Laden der Birseck’schen Consum-Gesellschaft. Aufnahme um 1910 (Bild: Bürgergemeinde Münchenstein).
Ernst Müllers Erfolg führt zu Platzmangel in Kleinhüningen
Ernst Müllers Blechwarenfabrik läuft derweil rund – und von den Kapazitäten her, mitunter am Anschlag. Mit der Serienproduktion von Weissblechbüchsen für die schnell wachsende Basler Chemie hat er eine echte Marktlücke entdeckt. Trotz Erstem Weltkrieg (1914-1918) wird die Fabrikation in Kleinhüningen modernisiert. Nach Ende des Krieges sind die Platzverhältnisse definitiv zu eng. Er sondiert geeignete, verkehrstechnisch gut gelegene Orte, primär in unmittelbarer Nähe zu seinen Basler Kunden. Interessante Orte gibt es einige, der Ausgang der Suche ist am Anfang auch noch offen. Und dann stösst er auf eine leerstehende, kleine Fabrik in Münchenstein – mit Landreserve.
Nach dem Ersten Weltkrieg wächst das Industriegebiet Münchenstein weiter. Neue Firmen – wie erwähnt auch diese von Ernst Müller – ziehen hier her:
- 1916 Gebrüder Ackermann mit Stanzartikeln für elektrische Apparate
- 1918 Aluminium Press- und Walzwerke
- 1922 Ernst Müller Blechwarenfabrik
- 1922 Zollfreilager der Stadt Basel
Die Strassenbrücke über die Birs beim Bruckgut, rechts die Eisenbahnbrücke. Die Birseckbahn fährt hier noch eingleisig auf der Strassenbrücke. Aufnahme um 1920 (Bild: Bürgergemeinde Münchenstein). 1922 wird an Stelle der bisherigen, von Tram und Autos gemeinsam benutzten und engen Birsbrücke in Münchenstein, eine neue allein für die Bahn gebaut. Ab 1925 wird die ganze Strecke zwischen der Neuen Welt und Brown Boveri doppelspurig.
Mit dem Kauf der Liegenschaft der Gebrüder Ackermann
kommt die Ernst Müller Blechwarenfabrik nach Münchenstein
Zurück zu 1916 – zu einer vorgelagerten Geschichte, die eng mit der Geschichte der Ernst Müller Blechwarenfabrik verwoben ist. In handschriftlichen Aufzeichnung von Otto Schmucki, Direktor der Zweigniederlassung von Brown Boveri, die er für die Publikation «Chronik von Münchenstein: Kapitel Gewerbe & Industrie» verfasst hat, ist das Schicksal der Gebrüder Ackermann beschrieben. Im Text kommt auch ein gewisser Ernst Müller vor. Hier der Originaltext:
«Angelockt durch die Konjunktur des Krieges, bauten im Jahre 1916 die Gebrüder Ackermann aus Basel zwischen der Station Münchenstein und der Tramlinie eine kleine zweistöckige Fabrik zur Herstellung von Stanzartikeln für elektrische Apparate. Hauptsächlich wurden Blecharmaturen für elektrische Leitungen gestanzt und gepresst. Das Geschäft scheint infolge des durch den Krieg und die Materialsperre gezeitigten Mangel an solchen Details eine Zeit lang recht gut gegangen zu sein. Es waren eine Anzahl Pressen in flottem Betriebe und es waren bis etwa 40 Arbeiter und Arbeiterinnen in der Fabrik beschäftigt. Mit dem Aufhören der Sperre überflutete das Ausland die Schweiz mit derartigen Artikeln, welche begünstigt durch die Valutaverhältnisse jede Prosperität einer inländischen Fabrikation ausschalteten. Wohl zu spät haben sich die Besitzer nach einer Umstellung auf lukrativere Artikel umgesehen, so dass infolge Absatz- und Geldmangel diese Fabrik im Jahre 1920 unter beträchtlichen Verlusten stillgelegt werden musste.
Nachdem die Fabrik einige Jahre leer gestanden war, erwarb Herr Ernst Müller dieselbe, um die Fabrikation von Metallwaren und Stanzartikeln daselbst aufzunehmen und zu betreiben.»
(Originaltext und Bildmaterial: Bürgergemeinde Münchenstein)
Ernst Müller unterschreibt den Kaufvertrag am 11. April 1922. Die Liegenschaft in Münchenstein mit 42 Aren hat 550’000 Franken gekostet. Damit ist ein wichtiger Meilenstein der Firmengeschichte erreicht. Auch dank der guten Anbindung an das Schienennetz der Jura-Simplon-Bahn verlassen jährlich mehrere 10'000 Fässer und Gebinde die Fabrik in Münchenstein.
Mit Müller-Gebinden vollbeladener Bahnwagen.